Was ist Sekundäre Traumatisierung? Bin ich betroffen? Was kann ich tun?

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Was ist Sekundäre Traumatisierung? Bin ich betroffen? Was kann ich tun?

Wenn Sie im Alltag oder auf der Arbeit Zeuge verstörender Ereignissen werden, dann ist es möglich, dass Ihr Gehirn ähnliche traumatische Symptome entwickelt, wie die eines direkten Traumaopfers – auch ohne, dass Sie selbst körperlich anwesend waren.

Wenn Sie im Alltag oder auf der Arbeit Zeuge verstörender Ereignissen werden, dann ist es möglich, dass Ihr Gehirn ähnliche traumatische Symptome entwickelt, wie die eines direkten Traumaopfers – auch ohne, dass Sie selbst körperlich anwesend waren. Unser Gehirn ist so konzipiert, dass es uns vor vermeintlichen Bedrohungen, die unsere Sicherheit gefährden, schützt. Wenn wir etwas Unerwartetes sehen, untersucht unser Gehirn das Gesehene und entscheidet daraufhin, ob es sicher und harmlos ist oder, ob wir schnell handeln müssen. Stresshormone, wie zum Beispiel Cortisol, werden im Körper ausgeschüttet, um uns auf das Handeln vorzubereiten. In Extremsituationen bedeutet dies „kämpfen, flüchten oder erstarren“. Im Alltag können sich solche Erlebnisse in Aggressionen oder Reizbarkeit sowie Vermeidung oder Eskapismus umwandeln und mitunter zu Alkohol- und Drogenkonsum oder sozialem Rückzug und Depressionen führen.

Obwohl diese Auslöser relativ klein erscheinen mögen – und manchmal sogar für das Bewusstsein überhaupt nicht wahrnehmbar sind – können sie dennoch eine kumulative Wirkung haben. Dies bedeutet, sekundärtraumatische Erlebnisse können sich mit der Zeit immer weiter anhäufen. Sogar geringe Ausschüttungen dieser natürlichen Hormone im Körper können das physische Wohlbefinden beeinträchtigen.

Sollten Sie in der Vergangenheit schwierige Erlebnisse durchgemacht haben, dann können diese Ihre Reaktion auf traumatische Bilder beeinflussen und intensivieren. Außerdem ist es möglich, dass Sie auch auf Eindrücke reagieren, die Sie an Ihnen bekannte Gesichter oder Personen erinnern. Ähnlich verhält es sich mit Stress in anderen Bereichen Ihres Alltags oder auf der Arbeit, da dieser Ihr allgemeines Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit beeinträchtigt und Sie somit anfälliger für eine sekundäre Traumatisierung macht.

Halten Sie Ausschau nach diesen Anzeichen

Anzeichen einer Sekundärtraumatisierung werden leicht unterschätzt und können schnell als unbedeutend und vorübergehend abgetan werden. Natürlich ist es durchaus möglich, dass sie von kurzweiliger Dauer sind. Sollten Sie jedoch beim Arbeiten regelmäßig mit Eindrücken in Kontakt kommen, die solche Reaktionen auslösen können, oder selber ein besonders verstörendes Erlebnis gehabt haben, ist es wichtig, dass Sie Ihre Reaktionen langfristig im Auge behalten und deren Auswirkungen und Veränderungen Ernst nehmen.


PSYCHOLOGISCHE ANZEICHEN
Aufdringliche Gedanken und Bilder, die sich gegen Ihren Willen in Ihr Bewusstsein drängen
Unrealistische Ansprüche an sich selbst
Zynismus
Hoffnungslosigkeit, Verlust von Idealen und Werten
Schuldgefühle aufgrund des eigenen Überlebens/Wohlbefindens
Wut
Ekel
Angst
Unruhiger Schlaf oder Albträume
Konzentrationsprobleme
Schreckhaftigkeit
Gefühl emotionaler Taubheit
Gefühl, mit starken Emotionen überfordert zu sein
Erhöhte Sensibilität gegenüber Gewalt


VERHALTEN UND BEZIEHUNGEN
Grenzen – Schwierigkeiten damit, Arbeit vom Privatleben abzugrenzen ODER ein Gefühl von Distanziertheit, selbst während man sich mit Menschen unterhält.
Rückzug – von sozialer Interaktion oder vergnüglichen Aktivitäten.

Gemütszustand – leicht reizbar, intolerant, unruhig, ungeduldig, aufmerksamkeitsbedürftig.
Flucht (oder Suchtverhalten) – mit Hilfe von Nikotin, Alkohol, Essen, anderen Substanzen, Sex, Shoppen, Internet.


KÖRPERLICHE ANZEICHEN
Kopfschmerzen
Erschöpfung ohne offensichtlichen Grund
Magen-Darm-Probleme
Veränderungen der Essgewohnheiten (Appetitlosigkeit, Überessen, etc.)

Wie kann ich mich schützen?

Sich Ihrer Situation bewusst zu werden, ist ein erster entscheidender Schritt, um zu verstehen, was Sie durchmachen und was Sie tun können, damit es Ihnen in solchen Momenten sowie davor und danach besser geht. Es mag Ihnen widersprüchlich erscheinen, doch es ist wichtig, dass Sie Ihr Bewusstsein für das Erlebte schärfen. Beobachten Sie, ob Ihre Stimmung, Ihr Verhalten, Ihre Interaktionen und körperlichen Wahrnehmungen oder Ihr allgemeiner Gesundheitszustand sich verändern.

Anstatt Ihre Gefühle zu unterdrücken, öffnen Sie sich ihnen gegenüber mit aufgeschlossener Neugier. Dies gibt Ihnen den Abstand, den Sie brauchen, um vernünftige Entscheidungen hinsichtlich Ihrer Bedürfnisse zu treffen, sowie jegliche Art von Unterstützung, die Sie in Anspruch nehmen wollen.

Menschen, die in einer Umgebung arbeiten, in der das Risiko einer Sekundärtraumatisierung besteht, sollten besonders auf die grundlegenden Aspekte der Selbstfürsorge achten. Hier gilt insbesondere ein ausgeglichenes Maß zwischen Arbeit und Freizeit, Erholung und Ernährung, sowie Abwechslung bei der Arbeit.

Ich spüre schädliche Auswirkungen – Was kann ich tun?

  • Nehmen Sie wahr, was in Ihnen vorgeht und benennen Sie es.
  • Geben Sie sich Zeit, um das Erlebte zu verarbeiten.
  • Öffnen Sie sich gegenüber Vertrauenspersonen (sagen Sie ihnen, wie Sie sich fühlen und was für Symptome Sie haben).
  • In Nachrichtenredaktionen ist „Galgenhumor” nicht unüblich. Sollten Sie jedoch bemerken, dass dieser in stärkeren Zynismus umschlägt, leiten Sie Schritte ein, mit denen Sie sich Ihrer Werte wieder bewusst werden und diese festigen, um Sinn und Hoffnung wieder herzustellen.
  • Nehmen Sie sich eine Auszeit, um zu meditieren oder andere beruhigende Atemübungen zu praktizieren.
  • Versuchen Sie es mit sogenannten Grounding-Techniken, um sich wieder zu erden.
  • Experimentieren Sie mit Aufmerksamkeitswechseln. Dies ist nicht das Gleiche, wie Gedanken oder Gefühle zu unterdrücken, sondern beinhaltet das gezielte Wechseln der Aufmerksamkeit zwischen verschiedenen Dingen.
  • Sobald Sie ein erhöhtes Risiko einer sekundären Traumatisierung wahrnehmen, sprechen Sie mit einem Kollegen oder einer Kollegin, damit diese nach sichtbaren Anzeichen einer Eskalation Ausschau halten können. Informieren Sie Ihren Vorgesetzten und sprechen Sie, falls gewollt, über zusätzliche Hilfe.

Methoden und Techniken für das Selbstmanagement

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PEACE-Formel
Die PEACE-Formel für Widerstandsfähigkeit ist eine leicht einprägsame Methode mit der Sie regelmäßig in sich hineinhorchen können, um herauszufinden, wie Sie Dinge angehen und wie es sich mit Ihrer Einstellung zu sich selbst verhält. Das Ziel ist es, vernünftige Entscheidungen hinsichtlich der Nutzung Ihrer Zeit und Energie zu treffen. Wenn Sie das nächste Mal mit schwierigem Material arbeiten, nehmen Sie sich einen Moment Zeit, um sich folgende Fragen zu stellen:

PACE – Tempo: Wie schnell arbeite ich? Kann ich dieses Tempo, diese Intensität beibehalten? Habe ich Zeit zu Reflektieren und neue Kraft zu tanken?

ENERGY – Energie: Wie verteilt sich meine Energie auf den Tag? Kann ich meine Aufgaben so organisieren, dass ich die anspruchvollsten Materialen bearbeite, wenn meine Energiereserven noch voller sind? Achte ich auf die Signale meines Körpers, wenn er mir sagt, dass meine Energiereserven leer sind?

ACCEPTING and ADAPTING – Akzeptanz und Anpassung: Wenn ich ein schwieriges Erlebnis durchmache oder ich mir zunehmend problematischer Anzeichen bewusst werde, was muss ich mir eingestehen, das ich möglicherweise unterdrückt habe? Was kann ich ändern, um meine Bedürfnisse anzuerkennen, damit ich auf lange Sicht widerstandsfähiger werde?

CHOICE – Wahl: Auf was kann ich meine Aufmerksamkeit bewusst lenken? Was kann ich (zumindest für diesen Moment) bewusst loslassen? Welche Art von Unterstützung möchte ich erhalten?

ESTEEM – Wertschätzung: Was für eine Nachricht sende ich an mich selbst? Gehe ich mit mir selbst zu hart ins Gericht, weil ich Schwierigkeiten habe, mit dem Leid umzugehen? Kann ich mir vor Augen führen, dass ich gut bin, in dem was ich tue, und dass ich nicht versage, sondern mich um meine allgemeine Widerstandsfähigkeit kümmere?

Atemübungen und andere schnelle achtsamkeitsbasierende Methoden

Übungen, bei denen Sie sich auf Ihre Atmung konzentrieren, können dabei helfen, Sie zu beruhigen, Ihre physischen Reaktionen zu regulieren und Ihnen das Gefühl geben, Halt zu finden. Die folgenden Beispiele helfen Ihnen dabei:

7/11 Atemtechnik: Atmen Sie ein und zählen dabei bis sieben. Atmen Sie danach wieder aus und zählen dabei bis elf. Wiederholen Sie das Ganze bis Sie langsam das Gefühl bekommen, wieder mehr Kontrolle zu haben. Im Anschluss atmen Sie in Ihrem gewohnten Rhythmus weiter.

Die Atemraum-Übung in drei Schritten kann vor, während oder nach einer schwierigen Aufgabe oder Zeit auf der Arbeit angewandt werden:

Bereiten Sie sich vor, indem Sie Ihre Augen komplett schließen oder den Blick leicht senken. Spüren Sie den Kontakt zwischen dem Boden und dem Stuhl zu Ihrem Körper. Achten Sie auf Ihre Füße und Ihren Rücken und begeben Sie sich in eine Sitzposition, die Ihnen ein Gefühl von Wachsamkeit und Würde verleiht.

Schritt 1
Nehmen Sie Ihre Stimmung wahr und benennen Sie sie. Nehmen Sie all Ihre Gefühle wahr und benennen Sie diese ebenfalls. Nehmen Sie jegliche Empfindungen in Ihrem Körper wahr und erkennen diese an.

Schritt 2
Konzentrieren Sie sich nun vollkommen auf Ihre Atmung. Verfolgen Sie jeden Atemzug, wie er in Ihren Körper eintritt, sich nach unten in Ihren Bauch und wieder hoch und hinaus aus Ihrem Körper bewegt. Folgen Sie für etwa eine Minute einzig Ihrem Atem.

Schritt 3
Erweitern Sie Ihr Bewusstsein auf Ihren gesamten Körper, so als würden Sie durch alle Poren Ihrer Haut ein- und ausatmen.

Um wieder aus dem Atemraum herauszutreten, spüren Sie erneut, wie Ihr Körper mit dem Stuhl und Ihre Füße mit dem Boden in Kontakt stehen. Lassen Sie das Licht langsam wieder durch Ihre Augenlider scheinen und öffnen Sie Schritt für Schritt Ihre Augen, um die Außenwelt wieder herein zu lassen.

Erden Sie sich mit Grounding

Beim Grounding handelt es sich um eine Technik, die Ihren Körper und Geist in Einklang bringt und im Hier und Jetzt verankert. Dies hilft vor allem, wenn Sie sich überwältigt fühlen. Versuchen Sie es mit einer beliebigen Kombinationen der folgenden Übungen: konzentrieren Sie sich für fünf Sekunden auf fünf Objekte in Ihrer Umgebung; spüren Sie, wie Ihr Körper den Stuhl und/oder den Boden berührt; halten Sie ein warmes oder kaltes Getränk in Ihren Händen und spüren Sie voll und ganz die Wärme oder Kälte; riechen Sie an Essen, einer Blume oder einem anderen Gegenstand; spritzen Sie sich Wasser ins Gesicht; sagen Sie Ihren Namen, Ihr Alter, wo Sie sich momentan befinden und wo Sie sich später noch befinden werden laut auf; stehen Sie auf und laufen, spüren Sie jeden Schritt; fokussieren Sie sich auf Geräusche, erst auf die in ihrer Nähe, dann auf Geräusche, die von weiter weg oder draußen kommen.

Aufmerksamkeitswechsel

Denken Sie an etwas, dass Ihnen das Gefühl von Sicherheit, Verbundenheit oder Geborgenheit gibt. Lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit bewusst von diesem sicheren zu dem negativen Gedanken, der Ihnen Probleme bereitet, und wieder zurück. Sprechen Sie mit sich selbst, während Sie zwischen den Gedanken wechseln! Bedenken Sie, es handelt sich hierbei nicht um eine Übung der Verdrängung, sondern um eine Übung, mit der Sie Kontrolle über das Erlebte ausüben.

Führen Sie Rituale ein, die Ihnen dabei helfen, bewusst mit der Arbeit anzufangen und wieder aufzuhören.